In China wird landesweit bis 2020 ein flächendeckendes Punktesystem eingeführt. Jeder Bürger bekommt einen eigenen Score zugewiesen. Er kann somit als gutes oder schlechtes Mitglied der Gesellschaft identifiziert werden. Der Punktestand ist weitgehend öffentlich zugängig und wird z.B. auch als Bonitäts-Kriterium benutzt. In Zeiten der DSGVO wäre das in Deutschland undenkbar. Chinesische Internetnutzer sehen das aber ganz anders. Sie feiern das soziale Punktesystem ab.  Die Freie Universität Berlin hat hierzu 2.200 Chinesen befragt.

Studie: Mehr als zwei Drittel der Chinesen bewerten Sozialkreditsysteme in ihrem Land positiv

Etwa 80 Prozent der chinesischen Internetnutzerinnen und -nutzer bewerten die staatlichen und kommerziellen Sozialkreditsysteme in ihrem Land positiv. Dies zeigt eine Studie zur öffentlichen Wahrnehmung solcher Systeme, mit denen das Verhalten von Bürgern, Unternehmen und Organisationen über Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen gesteuert werden soll. Die Studie, die unter Leitung der Politologin Prof. Dr. Genia Kostka am Institut für Chinastudien der Freien Universität Berlin durchgeführt und am Montag in Berlin veröffentlicht wurde, basiert auf einer für chinesische Internetnutzer repräsentativen Online-Befragung von mehr als 2.200 chinesischen Bürgerinnen und Bürgern. Besonders groß ist die Zustimmung den Ergebnissen zufolge, je älter und gebildeter die Befragten sind und je höher ihr Einkommen ist.

Von 2020 an – so der Plan der chinesischen Regierung – soll das Verhalten aller Bürger, Unternehmen, Organisationen und Regierungsstellen flächendeckend und verpflichtend in ganz China mit einem zentralen Sozialkreditsystem bewertet werden. Ziel ist es, die chinesische Gesellschaft zu „aufrichtigem“ Verhalten im Sinne der Kommunistischen Partei zu erziehen – offiziell ist das Ziel der Führung, mehr „Vertrauenswürdigkeit“ zu erreichen. Momentan finden Pilotprojekte in mehr als 40 chinesischen Städten statt: Dort ist die Teilnahme am System oft verpflichtend. Besonders „aufrichtige“ Bürgerinnen und Bürger oder Unternehmen werden in den Teststädten auf sogenannten roten Listen öffentlich gewürdigt, das Verhalten besonders „unaufrichtiger“ Bürger oder Unternehmen auf schwarzen Listen publik gemacht. Zudem gibt es verschiedene kommerzielle Anbieter, die Sozialkreditsysteme auf freiwilliger Basis anbieten. Je nach System wird das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger bewertet, und davon abhängend werden Vorteile gewährt oder Nachteile verhängt.

Die nun veröffentlichte Studie der Freien Universität zeigt, dass ein Großteil der Befragten bereits freiwillig Teil eines Sozialkreditsystems ist: So haben 80 Prozent angegeben, an einem kommerziellen Sozialkreditsystem teilzunehmen. Sieben Prozent erklärten, in einem von Lokalregierungen organisierten Pilotprogramm aktiv zu sein.

Chinesinnen und Chinesen, die in Städten wohnen, profitieren der Studie zufolge besonders von einer guten Bewertung eines kommerziellen Sozialkreditsystems: So gaben etwa 40 Prozent der befragten Stadtbewohner an, dass sie aufgrund ihrer hohen Punktzahl keine Kaution bei den in chinesischen Städten weit verbreiteten Sharing-Diensten hinterlegen müssten, etwa für die Nutzung von Fahrrädern und Autos. Auch von Belohnungen wie einer bevorzugten Behandlung bei Check-Ins oder besseren Bankkonditionen profitierten Städter häufiger, wie die Forscherinnen und Forscher herausfanden. Entsprechend sei die Zustimmung zu Sozialkreditsystemen in urbanen Gebieten höher als auf dem Land: In städtischen Regionen liegt die Zustimmungsrate bei 82 Prozent, in ländlichen Gebieten bei 68 Prozent. Eine niedrige Bewertung wirkt sich bei Befragten nicht signifikant auf deren Zustimmungsquote zum Bewertungssystem aus.

Überwiegend in westlichen aber auch in einigen chinesischen Medienberichten werde der massenhafte Eingriff in die Privatsphäre der chinesischen Bürgerinnen und Bürger kritisiert, sagt Studienleiterin Prof. Dr. Genia Kostka. Die Untersuchungsergebnisse zeigten dagegen, dass die Befragten das Sozialkreditsystem weniger als Überwachungsinstrument, sondern vielmehr als Instrument zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Schließung institutioneller und regulatorischer Lücken ansehen. Denn trotz beeindruckender Transformationsprozesse in den vergangenen 40 Jahren, seien das Rechtssystem und der Bankensektor in China unterentwickelt. So gebe es zum Beispiel kein einheitliches Kreditauskunftssystem und die Durchsetzung vieler Gesetze sei mangelhaft. Dies begründet aus Sicht der Wissenschaftlerin die hohen Zustimmungsraten für die Einführung eines solchen Systems: „In einem Land, in dem die Verbraucher über giftige Babymilch oder kontaminierte Erdbeeren besorgt sein müssen oder Internetbetrüger Hunderttausende von Menschen schikanieren, wird das Sozialkreditsystem als Plattform für verlässliche Information wahrgenommen. Die in westlichen Ländern geübte Kritik an der Sammlung persönlicher Daten rückt damit in China in den Hintergrund.“ Natürlich müsse man bei der Betrachtung der Studienergebnisse berücksichtigen, dass Befragte möglicherweise sehr vorsichtig gewesen seien bei ihrer Online-Bewertung der Sozialkreditsysteme, sagt Genia Kostka. Die positive Meinung zu den Bonitätssystemen habe sich aber auch in persönlichen Interviews bestätigt, die mit chinesischen Bürgerinnen und Bürgern geführt worden seien.

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Bereits heute haben die Sozialkreditsysteme Einfluss auf das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger, wie die Studie zeigt: 72 Prozent der Befragten gaben demnach an, sich bei ihrer Kaufentscheidung davon beeinflussen zu lassen, wie die Sozialkredit-Bewertung des Unternehmens ist, das die Produkte oder Services anbietet. 18 Prozent haben – so die Umfrageergebnisse – ihr Posting-Verhalten in sozialen Netzwerken verändert und Kontakte entfernt, weil der Umgang mit diesen Kontakten potenziell negativen Einfluss auf die eigene Bewertung hätte haben können.

Methodik: Online-Befragung von 2,209 chinesischen Bürgerinnen und Bürgern über Apps, mobile Websites und Desktops zwischen Februar und April 2018. Methode des „River Sampling“, die Umfrage wurde also mehr als 350.000 Menschen angeboten, welche sich dann aktiv für eine Teilnahme entscheiden konnten. Das Sample ist repräsentativ für die chinesischen Internetnutzerinnen und -nutzer zwischen 14 und 65 (basierend auf den Variablen Alter, Geschlecht und Region).

(Quelle FU Berlin)

Studie zum Download

Die in englisch verfasste Studie könnt ihr euch hier als .pdf Dokument downloaden: https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3215138

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