Was ist los bei der Otto Group? Zum zweiten Mal in Folge hat der Hamburger Konzern schlechte Jahreszahlen vorgelegt. Nach einem Minus von 12 Prozent im Vorjahr schrumpften die Umsätze im Geschäftsjahr 2023/24 um 9 Prozent. Besonders stark traf der Einbruch das Handelsgeschäft von Otto.de. In beiden Jahren wuchsen dagegen alle Marktplatz-Kennzahlen kräftig, mittlerweile wird das Marktplatz-GMV auf über 2 Mrd. Euro geschätzt, 6.500 Händler nutzen die Plattform aktuell. Man könnte also mit Fug und Recht sagen: Das Einzige, was bei Otto gerade läuft, ist der Marktplatz. Und trotzdem hat ausgerechnet der Marktplatz-Chef das Unternehmen Ende Februar verlassen. Was heißt das für die Plattform?

Eigentlich hat Bodo Kipper, Bereichsleiter Handel und Marktplatz ja vieles richtig gemacht: Der Ex-Amazonian wurde 2020 nach Hamburg geholt, um den hauseigenen Marktplatz voranzutreiben – und er hat abgeliefert. Der Marktplatz wuchs in den letzten beiden Geschäftsjahren jeweils zweistellig, die automatische Anbindung ließ die Anzahl der Verkäufer binnen kurzer Zeit auf 6.500 schnellen und das Sortiment deutlich wachsen. Das Marktplatz-GMV liegt mittlerweile bei über 2 Milliarden Euro. Und auch wenn noch einiges im Argen liegt, das Onboarding kompliziert, die Retourenquoten in allen Kategorien überdurchschnittlich hoch und das Retail Media-Programm unterentwickelt ist – viele Händler betrachten die Otto Group-Plattform mit Wohlwollen und wünschen ihr eine starke Zukunft. Eigentlich.

Nun hat Bodo Kipper den Otto-Konzern Ende Februar verlassen, und zwar offenbar nicht im Guten, sondern aufgrund “unterschiedlicher Perspektiven auf die strategische Richtung” von Otto.de. Seine Pflichten werden kommissarisch von den anderen Vorstandsmitgliedern übernommen.

OTTO Group: Kann ein Marktplatz zu gut laufen?

Ob dieses Otto-Bebens kommt man kaum umhin, die Gründe in der unterschiedlichen Entwicklung von Marktplatz- und Handelsgeschäft zu suchen. Denn während der Marktplatz seit drei Jahren kontinuierlich zweistellig wächst, durchlebt das Handelsgeschäft schwere Zeiten: Zum zweiten Mal in Folge waren die Umsätze der Otto Group deutlich rückläufig. Otto.de schrumpfte 2022/23 um 12 Prozent, 2023/24 um 9 Prozent; rechnet man aus diesen Zahlen die rund 2 Mrd. Marktplatz-GMV und dessen zweistelliges Wachstum heraus, ist schnell klar: Das Eigengeschäft von Otto.de läuft schlecht – oder das der Marktplatz-Händler zu gut.

„Diese Entwicklung ist durchaus eine Herausforderung für unser eigenes Handelsgeschäft, das sich tagtäglich beweisen muss“, räumte Otto-Sprecherin Annika Remberg auf Anfrage ein. „Entsprechend initiativ stellen wir es auf. Wir setzen dabei auf Flexibilität in der Produktauswahl und schärfen Kategorien immer wieder nach. Wir verfolgen mit unserem eigenen Handelsgeschäft eine klare Strategie und steuern die Marktplatzentwicklung so, dass Händler- und Marktplatzangebot bestmöglich ineinandergreifen.“

Wie wirkt sich das konkret auf die Plattform aus? 

Otto hat letztes Jahr die Gebühren für den Verkauf in einigen Kategorien deutlich angehoben, bewegt sich aber dort jetzt etwa im Vergleich zu Amazon auf Marktstandard (ca. 15 Prozent für Haushaltselektronik). Die Gebührenerhöhung wurde dabei weder mit längerem Vorlauf noch sonderlich deutlich kommuniziert, sondern versteckte sich in den neuen AGB – obwohl die Gebühren in manchen Kategorien mehr als verdoppelt wurden. „Das hat viele Händler verärgert und in einigen Bereichen das Marktplatzgeschäft nachhaltig abgewürgt“, kritisiert Andreas Müller, Präsident des bvoh und selbst Händler der ersten Stunde auf dem Otto-Marktplatz. „Schließlich kommen bei Otto zu den Marktplatz-Gebühren auch noch eine überdurchschnittlich hohe Retourenquoten mit kostenpflichtigen Retouren für den Händler dazu. Dadurch wird der Marktplatz für den Händler unterm Strich teurer als andere Plattformen – und macht ihn unattraktiver.“

Auffällig ist, dass die Gebührenerhöhungen vornehmlich Kategorien treffen, in denen Otto traditionell stark ist. Das bestätigt auch Sprecherin Remberg: Während Otto in der Kategorie Weißware – seit jeher ein Kernbereich des Eigengeschäfts – die Händlergebühren mehr als verdoppelt hat, wurde beispielsweise der Fokus des Handelsgeschäfts im Bereich Garden & DIY aufgelöst. „Als Händler bieten wir weiterhin Artikel aus diesem Sortiment an, aber überlassen den Fokus in Breite und Tiefe unseren Marktplatzpartnern.“ Zeitgleich läuft der Ausbau des Marktplatzes weiter, fast monatlich kommen neue Marktplatz-Kategorien hinzu, in denen das Otto-Eigengeschäft keine Aktien hält – ab April wird beispielsweise mit Nahrungsergänzungsmitteln die erste 7-Prozent-Kategorie für Marktplatz-Partner geöffnet.

Strategie oder Strafe für die Händler?

„Zu Beginn lag der Fokus vor allem auf dem zügigen Aufbau des Marktplatzes und dem Ausbau der Produktvielfalt für unsere Kund*innen. Jetzt, vier Jahre nach Start des automatisierten Onboardings und mit bereits mehr als 6.500 Partnern auf dem Marktplatz, justieren wir nach“, sagt Remberg. „Dafür analysieren wir immer wieder unsere Stärken und Herausforderungen im eigenen Handelsgeschäft und überlegen sehr genau, wie wir unsere Sortimente nach vorneheraus gestalten.“

Der Marktbeobachter (und Branchen-bekannter Otto-Kritiker) Jochen Krisch formuliert anders. Er sieht den Fokus von Otto klar auf dem Handelsgeschäft – und die Gebührenerhöhungen als Quittung für die miserablen Zahlen. „Die Handelsumsätze von Otto.de sind einfach zu schnell zu stark eingebrochen. Das dürfte Otto das Ergebnis verhagelt haben“, so der Experte. „Aus meiner Sicht ist das die Strafe für die Marktplatzhändler. Offenbar bestand auf der Handelsseite der Eindruck, dass die Marktplatzhändler zu gut wegkommen. Nicht wirklich zielführend, um ein Marktplatzgeschäft aufzubauen, aber nachvollziehbar (aus Otto-Handelssicht). Es dürfte so manchen Marktplatzhändler verschrecken.“

Otto wiederum bemüht sich sehr, die widersprüchlichen Meldungen aus dem eigenen Haus und den Abgang von Bodo Kipper als Teil einer langfristigen Unternehmens- und Plattformstrategie verstanden zu wissen. „An unserer übergeordneten Strategie wird sich nichts ändern“, so Remberg. „Was wir immer wieder nachjustieren müssen, ist der Weg zum Ziel. Deshalb beschäftigen wir uns mit den Fragen wie, wie gestalten wir bestimmte Sortimente? Welche Preissegmente wollen und müssen wir im eigenen Handelsgeschäft je Sortiment anbieten? Welche Services unterscheiden das eigene Handelsgeschäft von Partnerangeboten (bspw. Aufbau- und Anschlussservice)?“

OTTO Group: Weitere Führungswechsel stehen 2025 und 2026 an

Ob der heute bekannt gegebene Führungswechsel bei Otto – Michael Otto wird die Konzernführung 2026 an seinen Sohn Benjamin Otto übergeben und Vorstandsvorsitzender Alexander Birken tritt seinen Posten 2025 an Petra Scharner-Wolff ab – angesichts der Faktenlage eher ins Narrativ „Langfristige Geschäftsstrategie“ oder „Offene Panik in Hamburg passt, liegt im Ermessen des Betrachters. Ich persönlich neige dazu, die Personalien als längst überfälligen Wechsel zu betrachten – oder wahlweise als Neuauflage des Prinzips “Wenn alles schief läuft, berufe eine Frau an die Spitze.”

Klar ist dagegen, dass die deutsche E-Commerce-Landschaft von einem starken lokalen Marktplatz-Player nur profitieren kann. Das erklärt das hohe Interesse von Händlern, Marken und Dienstleistern an Otto Market – und die Verunsicherung, die die aktuellen Verwerfungen aufwerfen.

Es wird sich zeigen, wer in der nächsten Runde der Auseinandersetzung zwischen Marktplatz und Handelsgeschäft bei Otto Group die Nase vorn haben wird. Die Pressemitteilung zu den Ergebnissen des Geschäftsjahrs 2023/24, die als Investitionsfelder unter anderem Logistik, KI und Liveshopping nennt, schweigt sich zum Marktplatz jedenfalls weitgehend aus.