Archiv des Autors: Ingrid Lommer

Über Ingrid Lommer

Ingrid Lommer beobachtet als Journalistin, Event-Veranstalterin und Podcasterin seit über 10 Jahren den deutschen E-Commerce-Markt. Als Co-Gründerin des "Marketplace Universe" will sie Marktplatz-Menschen in ganz Europa informieren, unterhalten und vernetzen.

OTTO Group Marktplatz

Handelsgeschäft vs. Marktplatz bei Otto: Die Verlierer sind die Händler

Was ist los bei der Otto Group? Zum zweiten Mal in Folge hat der Hamburger Konzern schlechte Jahreszahlen vorgelegt. Nach einem Minus von 12 Prozent im Vorjahr schrumpften die Umsätze im Geschäftsjahr 2023/24 um 9 Prozent. Besonders stark traf der Einbruch das Handelsgeschäft von Otto.de. In beiden Jahren wuchsen dagegen alle Marktplatz-Kennzahlen kräftig, mittlerweile wird das Marktplatz-GMV auf über 2 Mrd. Euro geschätzt, 6.500 Händler nutzen die Plattform aktuell. Man könnte also mit Fug und Recht sagen: Das Einzige, was bei Otto gerade läuft, ist der Marktplatz. Und trotzdem hat ausgerechnet der Marktplatz-Chef das Unternehmen Ende Februar verlassen. Was heißt das für die Plattform?

Eigentlich hat Bodo Kipper, Bereichsleiter Handel und Marktplatz ja vieles richtig gemacht: Der Ex-Amazonian wurde 2020 nach Hamburg geholt, um den hauseigenen Marktplatz voranzutreiben – und er hat abgeliefert. Der Marktplatz wuchs in den letzten beiden Geschäftsjahren jeweils zweistellig, die automatische Anbindung ließ die Anzahl der Verkäufer binnen kurzer Zeit auf 6.500 schnellen und das Sortiment deutlich wachsen. Das Marktplatz-GMV liegt mittlerweile bei über 2 Milliarden Euro. Und auch wenn noch einiges im Argen liegt, das Onboarding kompliziert, die Retourenquoten in allen Kategorien überdurchschnittlich hoch und das Retail Media-Programm unterentwickelt ist – viele Händler betrachten die Otto Group-Plattform mit Wohlwollen und wünschen ihr eine starke Zukunft. Eigentlich.

Nun hat Bodo Kipper den Otto-Konzern Ende Februar verlassen, und zwar offenbar nicht im Guten, sondern aufgrund “unterschiedlicher Perspektiven auf die strategische Richtung” von Otto.de. Seine Pflichten werden kommissarisch von den anderen Vorstandsmitgliedern übernommen.

OTTO Group: Kann ein Marktplatz zu gut laufen?

Ob dieses Otto-Bebens kommt man kaum umhin, die Gründe in der unterschiedlichen Entwicklung von Marktplatz- und Handelsgeschäft zu suchen. Denn während der Marktplatz seit drei Jahren kontinuierlich zweistellig wächst, durchlebt das Handelsgeschäft schwere Zeiten: Zum zweiten Mal in Folge waren die Umsätze der Otto Group deutlich rückläufig. Otto.de schrumpfte 2022/23 um 12 Prozent, 2023/24 um 9 Prozent; rechnet man aus diesen Zahlen die rund 2 Mrd. Marktplatz-GMV und dessen zweistelliges Wachstum heraus, ist schnell klar: Das Eigengeschäft von Otto.de läuft schlecht – oder das der Marktplatz-Händler zu gut.

„Diese Entwicklung ist durchaus eine Herausforderung für unser eigenes Handelsgeschäft, das sich tagtäglich beweisen muss“, räumte Otto-Sprecherin Annika Remberg auf Anfrage ein. „Entsprechend initiativ stellen wir es auf. Wir setzen dabei auf Flexibilität in der Produktauswahl und schärfen Kategorien immer wieder nach. Wir verfolgen mit unserem eigenen Handelsgeschäft eine klare Strategie und steuern die Marktplatzentwicklung so, dass Händler- und Marktplatzangebot bestmöglich ineinandergreifen.“

Wie wirkt sich das konkret auf die Plattform aus? 

Otto hat letztes Jahr die Gebühren für den Verkauf in einigen Kategorien deutlich angehoben, bewegt sich aber dort jetzt etwa im Vergleich zu Amazon auf Marktstandard (ca. 15 Prozent für Haushaltselektronik). Die Gebührenerhöhung wurde dabei weder mit längerem Vorlauf noch sonderlich deutlich kommuniziert, sondern versteckte sich in den neuen AGB – obwohl die Gebühren in manchen Kategorien mehr als verdoppelt wurden. „Das hat viele Händler verärgert und in einigen Bereichen das Marktplatzgeschäft nachhaltig abgewürgt“, kritisiert Andreas Müller, Präsident des bvoh und selbst Händler der ersten Stunde auf dem Otto-Marktplatz. „Schließlich kommen bei Otto zu den Marktplatz-Gebühren auch noch eine überdurchschnittlich hohe Retourenquoten mit kostenpflichtigen Retouren für den Händler dazu. Dadurch wird der Marktplatz für den Händler unterm Strich teurer als andere Plattformen – und macht ihn unattraktiver.“

Auffällig ist, dass die Gebührenerhöhungen vornehmlich Kategorien treffen, in denen Otto traditionell stark ist. Das bestätigt auch Sprecherin Remberg: Während Otto in der Kategorie Weißware – seit jeher ein Kernbereich des Eigengeschäfts – die Händlergebühren mehr als verdoppelt hat, wurde beispielsweise der Fokus des Handelsgeschäfts im Bereich Garden & DIY aufgelöst. „Als Händler bieten wir weiterhin Artikel aus diesem Sortiment an, aber überlassen den Fokus in Breite und Tiefe unseren Marktplatzpartnern.“ Zeitgleich läuft der Ausbau des Marktplatzes weiter, fast monatlich kommen neue Marktplatz-Kategorien hinzu, in denen das Otto-Eigengeschäft keine Aktien hält – ab April wird beispielsweise mit Nahrungsergänzungsmitteln die erste 7-Prozent-Kategorie für Marktplatz-Partner geöffnet.

Strategie oder Strafe für die Händler?

„Zu Beginn lag der Fokus vor allem auf dem zügigen Aufbau des Marktplatzes und dem Ausbau der Produktvielfalt für unsere Kund*innen. Jetzt, vier Jahre nach Start des automatisierten Onboardings und mit bereits mehr als 6.500 Partnern auf dem Marktplatz, justieren wir nach“, sagt Remberg. „Dafür analysieren wir immer wieder unsere Stärken und Herausforderungen im eigenen Handelsgeschäft und überlegen sehr genau, wie wir unsere Sortimente nach vorneheraus gestalten.“

Der Marktbeobachter (und Branchen-bekannter Otto-Kritiker) Jochen Krisch formuliert anders. Er sieht den Fokus von Otto klar auf dem Handelsgeschäft – und die Gebührenerhöhungen als Quittung für die miserablen Zahlen. „Die Handelsumsätze von Otto.de sind einfach zu schnell zu stark eingebrochen. Das dürfte Otto das Ergebnis verhagelt haben“, so der Experte. „Aus meiner Sicht ist das die Strafe für die Marktplatzhändler. Offenbar bestand auf der Handelsseite der Eindruck, dass die Marktplatzhändler zu gut wegkommen. Nicht wirklich zielführend, um ein Marktplatzgeschäft aufzubauen, aber nachvollziehbar (aus Otto-Handelssicht). Es dürfte so manchen Marktplatzhändler verschrecken.“

Otto wiederum bemüht sich sehr, die widersprüchlichen Meldungen aus dem eigenen Haus und den Abgang von Bodo Kipper als Teil einer langfristigen Unternehmens- und Plattformstrategie verstanden zu wissen. „An unserer übergeordneten Strategie wird sich nichts ändern“, so Remberg. „Was wir immer wieder nachjustieren müssen, ist der Weg zum Ziel. Deshalb beschäftigen wir uns mit den Fragen wie, wie gestalten wir bestimmte Sortimente? Welche Preissegmente wollen und müssen wir im eigenen Handelsgeschäft je Sortiment anbieten? Welche Services unterscheiden das eigene Handelsgeschäft von Partnerangeboten (bspw. Aufbau- und Anschlussservice)?“

OTTO Group: Weitere Führungswechsel stehen 2025 und 2026 an

Ob der heute bekannt gegebene Führungswechsel bei Otto – Michael Otto wird die Konzernführung 2026 an seinen Sohn Benjamin Otto übergeben und Vorstandsvorsitzender Alexander Birken tritt seinen Posten 2025 an Petra Scharner-Wolff ab – angesichts der Faktenlage eher ins Narrativ „Langfristige Geschäftsstrategie“ oder „Offene Panik in Hamburg passt, liegt im Ermessen des Betrachters. Ich persönlich neige dazu, die Personalien als längst überfälligen Wechsel zu betrachten – oder wahlweise als Neuauflage des Prinzips “Wenn alles schief läuft, berufe eine Frau an die Spitze.”

Klar ist dagegen, dass die deutsche E-Commerce-Landschaft von einem starken lokalen Marktplatz-Player nur profitieren kann. Das erklärt das hohe Interesse von Händlern, Marken und Dienstleistern an Otto Market – und die Verunsicherung, die die aktuellen Verwerfungen aufwerfen.

Es wird sich zeigen, wer in der nächsten Runde der Auseinandersetzung zwischen Marktplatz und Handelsgeschäft bei Otto Group die Nase vorn haben wird. Die Pressemitteilung zu den Ergebnissen des Geschäftsjahrs 2023/24, die als Investitionsfelder unter anderem Logistik, KI und Liveshopping nennt, schweigt sich zum Marktplatz jedenfalls weitgehend aus.

Second-Hand-Modemarkt: Warum ist Geld verdienen so schwer?

Vinted verprasst seine Investoren-Millionen bei einer Übernahme nach der anderen, Mädchenflohmarkt versucht sich nach einem Wegner-Waschgang seiner Prozesse an einem Strategie-Wechsel, und H&M freut sich über unerwarteten Geldregen durch seine Mehrheitsbeteiligung am Second-Hand-Aufbereiter Sellpy. Es ist eine Menge los im Second-Hand-Modemarkt. Doch früher oder später gilt auch hier: Nur wer schwarze Zahlen schreibt, der bleibt.

Retter in der Not für Mädchenflohmarkt

Als die Second-Hand-Modeplattform Mädchenflohmarkt letzten Sommer nach über 15 Jahren am Markt Insolvenz anmelden musste, hat das aufmerksame Marktbeobachter kaum gewundert. Schon in den Monaten davor häuften sich die wütenden Facebook-Threads, in denen Verkäuferinnen ihrem Ärger über verschleppte oder gleich ganz ausfallende Auszahlungen Luft machten. Auch die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg war schon auf dem Plan.

Wenige Tage nach der offiziellen Insolvenzanmeldung fand sich jedoch ein prominenter Investor: Christian Wegner, Ex-Momox-Gründer und Co-Gründer von Stuffle.com. “Mit Stuffle verfolge ich ja das Ziel, eine Welt zu schaffen, in der mehr gebrauchte Artikel als neue gekauft werden – und zwar in jedem Sortiment“, sagte mir Christian kürzlich im Interview. „Deshalb schaue ich natürlich auch auf den Second-Hand-Mode-Markt – und als dort letztes Jahr mit Mädchenflohmarkt einer der größten und bekanntesten deutschen Player mit einer ziemlich coolen eigenen Software insolvent ging, bin ich eingestiegen. Jetzt arbeiten wir daran, aus Mädchenflohmarkt ein funktionierendes, profitables Unternehmen zu machen.”

Das Kreuz mit der Profitabilität

„Ein funktionierendes, profitables Unternehmen“ – das sagt Christian so einfach, doch tatsächlich sind an diesem Ziel schon viele Geschäftsträume im Second-Hand-Fashionmarkt gescheitert. “Größe ist im Second Hand-Modehandel ein entscheidendes Thema“, sagte mir die Second-Hand-Expertin Karo Junker de Neui, Gründerin und bis 2018 CEO des Luxus-Second-Hand-Mode-Anbieter Vite enVogue. „Je größer ein Shop, desto leichter und stabiler verläuft der Sortimentsankauf, desto höher ist die Rotation im Sortiment, und je größer der Bekanntsheitsgrad desto billiger wird die Käufer- und Verkäuferakquise. Profitabilität hängt hier in diesem Feld sehr eng mit großen Volumina zusammen.“

Aber auch große Volumina sind kein Garant für Profitabilität – wie man beispielsweise am größten europäischen Player Vinted sieht. Das Unternehmen ist seit 2013 am Markt und hat in sechs Investoren-Runden bisher über 500 Millionen US-Dollar von 10 Investoren eingesammelt – wirtschaftet aber immer noch nicht profitabel: 2022 setzte Vinted 373 Millionen Euro um (+51 Prozent), machte dabei aber immer noch 40 Millionen Euro Verlust (-62%). Das hält ihn allerdings nicht davon ab, fleißig in ganz Europa auf Einkaufstour zu gehen: Im Januar 2024 übernahm Vinted den größten dänischen Second-Hand-Marktplatz Trendsales, 2022 hatte das Unternehmen bereits den deutschen Player für Luxus-Accessoires Rebelle geschluckt.

Profitabilität ist also eine große Herausforderung im Second-Hand-Mode-Markt – aber keine unmögliche, wie ein Blick in die Zahlen von H&M zeigt: Die Schweden sind 2019 als Mehrheitsgesellschafter bei der Second-Hand-Plattform Sellpy eingestiegen (die zu diesem Zeitpunkt nicht profitabel war). In den aktuellen Jahreszahlen trägt Sellpy in kleinem, aber merklichen Rahmen zum Gewinn des Unternehmens bei.

Kann Mädchenflohmarkt es schaffen?

Das hängt im Wesentlichen von zwei Dingen ab: von den Prozessen und den Einnahme-Strömen. In Sachen Prozesse hat Christian Wegner, der mit seinem neuen Projekt Stuffle spätestens nächstes Jahr profitabel sein will, seine ganze Erfahrung eingebracht und Mädchenflohmarkt einmal kräftig auf links gewaschen. “Im Second-Hand-Bereich muss man seine Logistik-Prozesse und vor allem seine Kosten extrem im Griff haben“, so Christian. “Deshalb ist für uns das Wachstum auf Mädchenflohmarkt erst einmal nachrangig, stattdessen haben wir die Logistik-Prozesse glatt gezogen. Speziell in der Logistik und im Concierge-Service (ein Service, bei dem Mädchenflohmarkt Warenaufbereitung, Produktlisting und Pricing für die C2C-Verkäufer übernimmt, Anm.d.R.) haben wir dadurch die Zeiten beim Wareneingang bereits halbiert.”

Der zweite Schritt folgte letzte Woche mit der Ankündigung eines spannenden Strategiewechsels: Mädchenflohmarkt öffnet seinen C2C-Marktplatz für B2C-Verkäufer. “Mädchenflohmarkt hatte ja schon die ganze Marktplatz-Software, da war der Schritt zur Anbindung von B2B-Partnern nicht mehr so groß“, sagt Christian. “Die ersten Gespräche mit Second-Hand-Retailern über eine Anbindung laufen bereits. Darüber hinaus können wir uns auch andere Formen der Zusammenarbeit mit B2B-Partnern vorstellen. Unsere Logistik-Prozesse mit dem Concierge-Service könnten beispielsweise auch von B2B-Partnern für die Retourenaufbereitung genutzt werden. Das ist aber noch Zukunftsmusik.”

Die Plattform öffnet damit ihren Zugang zu rund 2 Millionen treuen Second-Hand-Kunden für interessierte Drittanbieter – und bietet ihnen gleichzeitig Zugriff auf seine Prozesse. Erste B2C-Partner sind – es wundert nicht – Stuffle.com und Vite en-Vogue, wo Christian Wegner mittlerweile auch als Investor engagiert ist. „Ganz neu ist die Idee nicht“, meint Karo Junker de Neui. „Im Wesentlichen bietet der Marktplatz von About You jetzt schon etwas ähnliches im Preloved-Segment an. Mädchenflohmarkt und Vite en Vogue sind dort übrigens als Verkäufer angebunden.” Händler könnten von der Anbindung an den neuen B2C-Marktplatz mit dem großen Bekanntheitsgrad durchaus profitieren, meint Karo, auch wenn sie eine Uniformierung der verschiedenen Second-Hand-Plattformen fürchtet, die letztlich zu austauschbaren Sortimenten führt.

Und was ist mit den Markenherstellern?

Müssten die nicht eine Plattform wie Mädchenflohmarkt begrüßen, die Erfahrung mit Warenaufbereitung und Authentifizierung von gebrauchten Mode-Artikeln hat – speziell im Lichte der anstehenden EU-Öko-Design-Richtline, die Marken die Vernichtung von unverkauften Waren deutlich erschweren könnte?

“Hersteller und Brands haben das Thema Second Hand jahrelang nicht nur gemieden, sondern auch aktiv behindert“, so Karo Junker. „Das ändert sich zwar aktuell, aber diese Änderung passiert im Schneckentempo. Ich kann mir deshalb nicht vorstellen, dass Brands den Marktplatz von Mädchenflohmarkt im ersten Schritt willkommen heißen. Eine Zusammenarbeit zwischen Brands und Händlern im Second-Hand-Markt gibt es zwar durchaus, aber meistens ausschließlich hinter den Kulissen unter Ausschluss der Öffentlichkeit.”

Es gilt für Mädchenflohmarkt also fürs erste, Second Hand-Retailer von ihrem Marktplatz zu überzeugen. Und weiter die Prozesse zu optimieren. Gut möglich, dass sich die Zukunft des deutschen Second-Hand-Modemarkts in diesem Jahr entscheidet.