Bereits seit Jahren wird vermutet, dass Amazon Händlerdaten für eigene Zwecke, wie die Produktentwicklung nutzt. So häufig die Vorwürfe erhoben werden, so regelmäßig bestreitet das Unternehmen die Datennutzung. Aber jetzt plauderten laut amerikanischen Medienberichten einige Ex-Mitarbeiter. Demnach sollen beim Handelsriesen aus Seattle sehr wohl Händlerdaten benutzt worden sein. Das geschah zwar entgegen der Anweisungen der Vorgesetzten, aber Mitarbeiter hatten das Gefühl, dass ihr Verhalten geduldet wird.
Alle mal rechts ran fahren
Der Punkt ist doch der – um das auch von vornherein klar darzustellen – nahezu alle Händlerdaten sind mit unterschiedlicher Genauigkeit von vielen Drittanbietertools öffentlich zugängig. Egal ob es Ad-Spendings oder Händlerumsätze sind. Was also soll nun verwerflich sein? Dass Amazon (mehr oder weniger) öffentliche Daten zur eigenen Produktentwicklung benutzt? Genauso wie eBay auf Amazon schaut, schaut auch Amazon auf eBay und andere Plattformen (auch auf die eigene), um Daten zu ermitteln und mit diesen zu arbeiten.
Nur leider scheinen das die Amazon-Reflex-Empörten bewusst zu übersehen. Das ist nicht gut, denn dadurch werden sinnvolle und hilfreiche Diskussionsansätze im Keim – wegen Ahnungslosigkeit – erstickt. Schade.
Das sind die Fakten
Halten wir es doch einfach mal fest: Alle großen Unternehmen schauen auf den Wettbewerb. Sie kämpfen mit mehr oder weniger harten Bandagen. Auch ihr schaut beispielsweise mit ›Helium10‹ oder ›Amalyze‹, was euer Wettbewerb macht. ›Terapeak‹ oder ›Baywatch‹ für eBay sind auch sehr beliebt. Vermessen also zu glauben, dass Amazon sich hier unnatürlich verhält. Wie viele Unternehmen auch, beobachtet der Handelsriese den Markt, erhebt Daten und entwickelt danach seine Produkte. So muss das!
Waren die Ausrutscher gewollt?
Klar schein zu sein, dass ab einer gewissen Hierarchie Amazon-Manager weggeschaut haben, wenn es um die Datenerhebung ging. Ein ähnliches Verhalten haben wir schon einmal gelesen. Und zwar in der illegalen eBay-Händlerabwerbung von Amazon. Das Wegschauen scheint also Teil der Amazon-Kultur zu sein, oder?
Wir wissen es nicht! Jedenfalls ist dieser Fall nicht geeignet etwas zu be- oder widerlegen. Denn ein anderer Argumentationsansatz ist, dass Daten eh (semi)öffentlich sind, sodass es in Seattle keinen interessiert hat. Trotzdem ist wichtig: Amazon ist Händler, kein Engel und hat sicher auch keinen Heiligenschein. Aber wer hat den schon? Zur Erinnerung: Hier in Deutschland, bei uns, ist ein ähnlicher Fall medienprominent wie die Sau durchs Dorf getrieben worden. Erinnert ihr euch? GM vs. VW? Der Betrug endete in einem Milliarden-Vergleich zu Lasten VWs.
Amazon ist böse
Aber halt auch nicht schlechter als die Mitbewerber und alle übrigen Unternehmen anderer Branchen. Auch nicht schlechter als ihr. Messt nicht mit zweierlei Maß. Ihr selbst versucht mit allen möglichen Tricks und Tools euren Wettbewerb auszustechen und Amazon macht es nicht anders. Das ist böse? Hat dieser moralische Denkweg im Business überhaupt Platz?
Machtmissbrauch? Und der Händler ist Produkttester?
Es ist skurril und ein astreiner Machtgebrauch, aber ist das nicht Bestandteil der Marketplace-DNS? Warum hat Amazon Händler zugelassen? Um Sortimentslücken zu schließen. Um Verbrauchern die besten Produkte zu liefern aber sicher auch, um Merchants als Produkttester zu gebrauchen. Ohne einen einzigen Cent zu investieren, probieren die Händler für Amazon Produktentwicklungen aus. Was für gut und erfolgreich befunden wird, legt Amazon selbst auf. So ist es. Wir haben es schon immer gewusst. Jetzt wissen wir es sicherer.
Des Pudels Kern aber ist doch der: Ist diese Machtfülle gesund oder behindert sie den Wettbewerb? Bei der Beantwortung dieser Frage sollten sich keine Geister scheiden! Das wird dann zu einem astreinen Machtmissbrauch und es entsteht ein deutlich verzerrter und unfairer Wettbewerb. Während einzelnes Verhalten normal erscheint, so sieht es ganz anders aus, wenn man es im Kontext betrachtet.
Deshalb gehören hier die Wettbewerbsbehörden auf den Plan. Schnell. Dringend. Aber die Wahrheit ist: Bisweilen ducken sie sich weg oder es werden mit dem Feind Wischiwaschi-Lösungen ausgehandelt. So nicht. Bitte.
Wie naiv muss man sein?
Natürlich haben die Mitarbeiter von Amazon nicht auf eigene Faust gehandelt.
Die Mittel und Wege, mit denen auch in Deutschland vorgegangen wurde , waren einfach nur dreist: Mal eben schnell behauptet, der Händler würde Markenfälschungen anbieten, um Ihnen zur Vorlage der Einkaufsrechnungen zu zwingen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Amazon stellt hier aber eine andere Konstellation dar.
Zum einen der “Marktplatzbetreiber”, der eine Plattform fuer Amazon und unabhaengige Haendler/Hersteller (jeweils bummelig 50%) anbietet.
Zum anderen der “Hersteller und Wettbewerber”, der durch den Marktplatzbetrieb sehr viele Daten zu Produkten und Wettbewerbern – inkl. Retourenquote, Defektrate, Suchbegriffen, Vorlieferanten (“gesperrt, Rechnung hochladen”), Umsatz in Abhaengigkeit zu externen Faktoren (Jahreszeit, Wetter etc.) vorliegen hat. Diese – im normalen Wettbewerb *niemals* zugaenglichen – Daten bieten einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Wenn dann noch automatisch Werbung fuer ein Amazon-eigenes Konkurrenz-Produkt als Produktvorschlag eingeblendet wird, sollte jedem klar sein, dass das so “nicht in Ordnung” ist. Aka ein Fall fuer die Wettbewerbshueter.
Dass die armen Mitarbeiter das alles ohne Wissen der Vorgesetzten gemacht haben – klar. Komischerweise sind die Regelverstoesse immer zum Schaden der anderen, niemals zum Schaden Amazons. Zudem sind die einzelnen Abteilungen derart abgekapselt, dass die Datensammlung durch “hoehere Tiere” ermoeglicht worden sein *muss*.