Amazon jagt Fakes – aber vergisst dabei seine Händler

Amazon gibt sich als kompromissloser Kämpfer gegen Produktfälschungen. Mit der hauseigenen Ermittlereinheit “Counterfeit Crimes Unit” (CCU) durchforstet der Konzern täglich Milliarden Datenpunkte, erkennt täglich Millionen Fakes, investiert Milliardenbeträge in KI-Systeme und arbeitet mit internationalen Ermittlungsbehörden zusammen. Die Berliner Morgenpost hat einen tiefen Einblick in diese Schattenwelt gegeben – inklusive Razzien, Verhaftungen und beschlagnahmter Zahnbürsten, Druckertinte oder Autoteile. Klingt beeindruckend. Ist es auch. Aber: Die Sache hat einen Haken. Und der heißt wie so oft bei Amazon: Die redlichen Händler bleiben auf der Strecke.


Die Bilanz der CCU: Milliardenabwehr gegen Produktpiraten

Amazon hat in den letzten fünf Jahren rund 15 Millionen Fälschungen aus dem Verkehr gezogen, mehr als 200 Zivilklagen eingereicht, 180 Millionen Dollar an Entschädigungen durchgesetzt und mehr als 65 Personen ins Gefängnis gebracht. Die CCU, bestehend aus Ex-Staatsanwälten, Geheimdienstmitarbeitern und Datenanalysten, arbeitet weltweit: Von Seattle bis Shanghai, von Berlin bis Istanbul. Besonders aktiv: Ermittlungen gegen Lieferketten in China, der Türkei, Vietnam und auch Großbritannien. Amazon setzt dabei verstärkt auf künstliche Intelligenz, um gefälschte Marken, Logos, Rechnungen oder Identitäten zu entlarven, bevor sie online gehen.

Smith, Leiter der Einheit, erklärt: “Unsere Systeme prüfen hunderte Datenpunkte, vom Logo bis zur IP-Adresse.” Die CCU verfolgt Fälscher schon bevor sie in Erscheinung treten. In der Theorie ein Meisterwerk moderner Verbrechensbekämpfung. In der Praxis ein Minenfeld – für ehrliche Händler.


Die dunkle Kehrseite: Wenn Schutz zur Waffe wird

Denn was in Amazons Anti-Fake-System fehlt, ist ein wirksamer Schutz für die ehrlichen Händler, die durch missbräuchliche Marken- und Patentrechtsmeldungen ins Visier geraten. Immer häufiger missbrauchen bösartige Akteure Amazons automatisierte Schutzmechanismen, um Konkurrenz gezielt auszuschalten. Das System ist nicht dumm – aber einseitig programmiert.

Wer eine Verletzung meldet, wird im Zweifel ernster genommen als derjenige, der sich verteidigen muss. Die Folge: Sperrungen ganzer Produktlisten, sogar ganzer Konten – oft ohne Vorwarnung, ohne echte Prüfung, ohne Dialog. Was als Schutz für Verbraucher gedacht war, wird so zur wirtschaftlichen Waffe gegen andere Seller.


Fakt: Händler verlieren Millionen

Die Folgen sind dramatisch. Vor zwei Jahren wurde ein großer Seller wegen angeblich patentrechtsverletzender Klimageräte gesperrt. Die Anzeige war falsch, das Patent existierte nicht in dieser Form – trotzdem verlor der Seller in einer Woche einen Umsatz im siebenstelligen Bereich. Das sind keine Einzelfälle, sondern bittere Realität.

Die Schutzsysteme sind zwar für Kunden gemacht, aber nicht für die, die Amazons Marktplatz am Leben halten: die tausenden professionellen, seriösen Händler. Wer ehrlich handelt, braucht Schutz vor den Schutzsystemen.


Amazon schweigt – oder schiebt Verantwortung ab

Versucht ein Händler, sich gegen eine ungerechtfertigte Sperre zu wehren, erwartet ihn ein Labyrinth aus Standardformularen, automatische Antworten und wochenlange Funkstille. Ansprechpartner? Fehlanzeige. Eskalation? Nur für Insider. Die betroffenen Unternehmen stehen währenddessen still, verlieren Kunden, Bewertungen, Rankings und Vertrauen.

Statt nationale Ansprechpartner zu schaffen, delegiert Amazon Verantwortung auf Systeme. KI erkennt zwar Fake-Produkte – aber eben nicht immer den Unterschied zwischen einem Betrugsversuch und einem legitimen Angebot mit Markenfreigabe.


Was Amazon jetzt tun muss

Will Amazon weiterhin als global führende Plattform für sicheren Handel gelten, reicht es nicht, sich nur um die Kundenperspektive zu kümmern. Vertrauen entsteht nicht durch Kontrollen allein, sondern durch Fairness für alle Seiten. Dazu gehört:

  1. Schnelle, menschliche Ansprechpartner für Seller bei Markenstreitigkeiten
  2. Ein transparentes Widerspruchsverfahren mit nachvollziehbarer Begründung
  3. Sanktionen gegen missbräuchliche Melder
  4. Ein Seller-Schutzprogramm gegen systematischen Abusereport-Missbrauch (AHA reicht nicht aus)
  5. Regionale Taskforces mit juristischer Expertise für komplexe IP-Fälle

Nur so kann Amazon sein eigenes System vor dem Missbrauch durch Betrüger von innen schützen – und gleichzeitig denen gerecht werden, die ihren Lebensunterhalt auf der Plattform verdienen.


Fazit: Guter Wille reicht nicht – Amazon muss zu Ende denken

Die Erfolge der CCU sind beeindruckend. Und es ist gut, dass Amazon Milliarden gegen Fälschungen investiert. Aber: Wer Fälschern das Handwerk legen will, darf die Händler nicht in Geiselhaft nehmen.

Der Marktplatz braucht keine neuen Firewalls – er braucht ein Gleichgewicht zwischen Kontrolle und Schutz. Solange dieses Gleichgewicht fehlt, bleibt der Anti-Fake-Krieg von Amazon einseitig. Und ehrlich arbeitende Händler zahlen die Rechnung für ein Problem, das sie nicht verursacht haben.

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