Das Pariser Handelsgericht verurteilte am 2. September 2019 zwei Unternehmen der Amazon-Gruppe dazu, innerhalb von sechs Monaten sieben Klauseln der Allgemeinen Geschäftsbedingungen für den Marktplatz zu ändern und eine Geldstrafe von vier Millionen Euro zu zahlen.
Die Abhängigkeit der Händler von Marktplätzen ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Durch diese Abhängigkeit entsteht das Risiko, dass die Marktplätze in einer Weise handeln, die den Händlern schaden kann. Dieses Risiko wird zusätzlich dadurch erhöht, dass Marktplätze und Händler im Wettbewerb stehen können, u.a. im Rahmen des Verkaufs eigener Produkte auf der Plattform.
In Anbetracht dieser Risiken hat die französische Wettbewerbsbehörde, die DGCCRF, in den Jahren 2015 und 2016 beschlossen, eine Ermittlung bezüglich der Praktiken auf diesen Marktplätzen durchzuführen. Amazon, das die mit Abstand größte Marktplatz-Plattform Frankreichs betreibt, ist auch Gegenstand dieser Untersuchung.
Basierend auf den Ergebnissen dieser Ermittlung erhob der Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire im Jahr 2017 Klage gegen drei Unternehmen der Amazon-Gruppe (Amazon France Services, Amazon Payments Europe und Amazon Services Europe). Grundlage dieser Klage bildet Artikel L442-6 I des französischen Handelsgesetzbuchs. Er wirft Amazon vor, ein erhebliches Ungleichgewicht in 11 Klauseln des Vertrags, welchen Amazon und die Drittanbieter schließen, zum Nachteil der Drittanbieter geschafft zu haben.
In einem 48-seitigen Urteil analysiert das Gericht die Situation von Amazon auf dem französischen Markt und ihre Beziehungen zu den Drittanbietern, die Waren auf ihrer Plattform verkaufen.
1. Verfahrenstechnische Aspekte
Die Amazon-Gruppe besteht aus verschiedenen Unternehmen. Dazu gehören die drei Unternehmen, gegen die der Minister klagt: Amazon Services Europe (nachfolgend ASE), Amazon France Services (nachfolgend AFS) und Amazon Payments Europe (nachfolgend APE). Ein Drittanbieter muss, um Produkte auf Amazon.fr zum Verkauf anbieten zu dürfen, zwei Verträge abschließen: einen Vertrag schließt er mit ASE und den anderen mit APE. Der erste Vertrag regelt die Rechte und Pflichten des Verkäufers im Hinblick auf die Nutzung der Plattform, während der zweite die Verwaltung der Zahlungen der Kunden betrifft. Zwischen AFS und dem Drittanbieter kommt hingegen kein Vertrag zustande.
Das Gericht wies den von AFS gestellten Antrag auf Abweisung der Klage ab. Trotz des Nichtvorliegens eines Vertrages ist AFS direkt in die Beziehungen zwischen ASE und den Drittanbietern einbezogen (unter anderem für die Eröffnung und den Betrieb des Kontos der Drittanbieter). AFS ist ein kommerzieller Partner der ASE, was dazu geführt hat, dass sie Beziehungen zu Verkäufern unterhalten und sich daher an den beanstandeten Praktiken beteiligt hat.
APE hatte hierbei mehr Erfolg. Die Aktivitäten von Zahlungs- und E-Geld-Instituten (was Amazon Payments Europe ist) fallen in diesem Fall nicht in den Anwendungsbereich des Handelsgesetzbuchs, sondern unter die spezifischen Bestimmungen des Währungs- und Finanzgesetzbuches, welche Vorrang haben. Der zwischen APE und den Drittanbietern geschlossene Vertrag fällt nicht in den Anwendungsbereich von Artikel L442-6 I ° des französischen Handelsgesetzbuches, auf dessen Grundlage die Klage erhoben wird.
Die Klage richtet sich daher nunmehr gegen AFS und ASE. Aufgrund der Übersichtlichkeit wird im weiteren Verlauf des Artikels die Bezeichnung „Amazon“ für diese Unternehmen verwendet.
Daraufhin musste überprüft werden, ob überhaupt eine Zuständigkeit des französischen Gerichts vorliegt. Dies sei laut Amazon aufgrund einer Vertragsklausel, die die Zuständigkeit Luxemburgs festlegte, nicht der Fall.
Das Gericht erklärte das französische Recht aus zwei Gründen für anwendbar:
- Zuständigkeit im Rahmen eines Deliktsverfahrens auf Grund des Ort des Schadens. Der Ort des Schadens liegt überwiegend in Frankreich, weil die in Frankreich ansässigen Drittanbieter Opfer der beanstandeten Klauseln sind.
- Zuständigkeit aufgrund des räumlichen Anwendungsbereichs einer Eingriffsnorm. Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen. Aufgrund dessen sind Vertragsbedingungen, wie z.B. vorliegend eine Zuständigkeitsklausel, unanwendbar.
Eine Klausel, die Luxemburg die Zuständigkeit überträgt, ist, basierend auf den beiden oben genannten Gründen, auf eine Klage des Ministers nicht anwendbar
2. Unterwirft oder versucht Amazon, Drittanbieter Verpflichtungen zu unterwerfen, die ein erhebliches Ungleichgewicht schaffen?
Wir haben nun den Kern des Urteils erreicht. Zur Verurteilung Amazons ist es nämlich erforderlich, dass alle Bedingungen der streitgegenständlichen Rechtsgrundlage erfüllt sind. Dies bestritt Amazon jedoch.
In der damaligen Fassung normierte der Artikel L442-6 I 2° des französischen Handelsgesetzbuches das Verbot, einen Handelspartner Verpflichtungen zu unterwerfen, die ein erhebliches Ungleichgewicht in den Rechte und Pflichten der Parteien schaffen.
Es stellt sich die Frage, ob es eine Unterwerfung oder einen Versuch der Unterwerfung seitens Amazon gibt (Punkt a) und ob die fraglichen Klauseln ein erhebliches Ungleichgewicht schaffen, einerseits aus individueller Perspektive (Punkt b) aber auch im Hinblick auf einer Gesamtanalyse des Vertrages (Punkt c).
a) Liegt eine (versuchte) Unterwerfung von Drittanbietern durch Amazon vor?
Die Unterwerfung im Sinne der einschlägigen Vorschrift wird insbesondere durch das Vorliegen eines wirtschaftlich unausgewogenen Kräfteverhältnisses zwischen den Vertragsparteien offengelegt. Um die Existenz dieses unausgewogenen Verhältnisses festzustellen, stützt sich die französische Rechtsprechung auf ein Indizienbündel. In dem vorliegenden Urteil befasst sich das Gericht damit, die Verhandlungsbedingungen der zwischen Amazon und den Drittanbietern geschlossenen Verträgen, die Machtstellung von Amazon auf dem relevanten Markt und ihre Unvermeidbarkeit auf besagtem Markt zu prüfen und kommt zu dem Schluss, dass ein erhebliches Ungleichgewicht im Machtverhältnis zwischen Amazon und den Drittanbietern besteht.
b) Schaffen die vom Minister beanstandeten Klauseln ein erhebliches Ungleichgewicht?
Das Gericht überprüfte die 11 vom Minister angegriffenen Klauseln einzeln. Einige dieser Klauseln sind an verschiedenen Stellen des Vertrags verteilt oder sogar nur auf der Website sichtbar. Eine Klausel des Vertrages ermöglicht Amazon dieses Vorgehen. 7 dieser 11 Klauseln schaffen nach Ansicht des Gerichts ein erhebliches Ungleichgewicht zum Nachteil der Drittanbieter. Es fällt nicht leicht, die Gesamtheit der Überlegungen des Gerichts in wenigen Zeilen zusammenzufassen, da die Entscheidung für jede dieser Klauseln auf einer gründlichen und detaillierten Argumentation beruht. Es soll jedoch in dem folgenden Abschnitt versucht werden, einen Überblick zu bieten:
- Die Klausel mit dem Titel “Vertragsänderungen” schafft ein eindeutiges Ungleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien. Diese Klausel ermöglicht es Amazon, eine Vertragsänderung sofort und ohne Vorankündigung durchzuführen. Es besteht keine vertragliche Verpflichtung, die Vertragspartner persönlich und direkt per E-Mail über eine Vertragsänderung zu benachrichtigen. Vielmehr wird von den Vertragspartner erwartet, dass sie jeden Tag das Seller Central Tool überprüfen, um zu sehen, ob eine Klausel oder Leitlinie zufällig geändert wurde. Das Ungleichgewicht beruht insofern insbesondere auf der fehlenden Vorankündigung und auf dem Fehlen einer vertraglichen Verpflichtung zur individuellen Mitteilung.
- Klauseln über die Aussetzung oder Kündigung des Vertrages – Das Gericht ist der Ansicht, dass die Klausel, nach der Amazon den Vertrag aus irgendeinem Grund und zu jeder Zeit durch einfache Benachrichtigung kündigen kann, rechtswidrig ist. Diese Klausel – die die Suspendierung oder den Ausschluss eines Verkäufers wegen Verschuldens oder unzureichender Qualität seiner Dienstleistungen betrifft– stellt ein erhebliches Ungleichgewicht dar. Sie ist zu allgemein (“aus irgendeinem Grund”), räumt Amazon ein Ermessen ein (keine vertragliche Begründungspflicht) und ist ungenau (keine Kündigungsfrist). Außerdem ist die Dauer der Suspendierung dem Drittanbieter nicht durch eine vertragliche Vereinbarung bekannt und steht nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dessen Verfehlung.
Ein weiterer Punkt des Vertrages, der es Amazon ermöglicht, die Erbringung der Dienstleistungen für die Gesamtheit der Drittanbieter nach eigenem Ermessen und ohne Vorankündigung jederzeit ganz oder teilweise zu unterbrechen, stellt ein erhebliches Ungleichgewicht zum Nachteil des Drittanbieters dar. Dies beruht insbesondere auf der Mehrdeutigkeit des Wortlauts und des Fehlens eines Hinweises auf einen Grund für eine solche Unterbrechung.
Ein weiterer Punkt des Vertrages, der es Amazon ermöglicht, die Erbringung der Dienstleistungen für die Gesamtheit der Drittanbieter nach eigenem Ermessen und ohne Vorankündigung jederzeit ganz oder teilweise zu unterbrechen, stellt ein erhebliches Ungleichgewicht zum Nachteil des Drittanbieters dar. Dies beruht insbesondere auf der Mehrdeutigkeit des Wortlauts und des Fehlens eines Hinweises auf einen Grund für eine solche Unterbrechung.
Die Klauseln über die Leistungsindikatoren sind ebenfalls rechtswidrig, da
- Amazon die Kriterien für die Bewertung der Leistung der Drittanbieter (hinsichtlich ihres Umfangs und der Folgen der Nichteinhaltung einiger dieser Kriterien) nicht erklärt;
- sie diese nach eigenem Ermessen ohne Vorankündigung ändern kann;
- und die Dauer der Sperrung des Kontos, die sich aus der Verletzung dieser Kriterien ergeben kann, willkürlich, ungenau und ohne Verhältnis zu dem Verstoß ist.
Die Klausel, die Amazon das Recht einräumt, nach eigenem Ermessen, den Zugang zu jeglicher Amazon-Website zu verbieten oder einzuschränken sowie das Angebot zum Kauf einer Ware des Verkäufers nach ihren eigenem Ermessen zu verzögern, auszusetzen oder zu verweigern, ermöglicht Amazon, willkürlich gegen die Verkäufe des Drittanbieters vorzugehen, obwohl dessen Produkte in direktem Wettbewerb mit den Produkten von Amazon stehen. Dies erachtete das Gericht als rechtswidrig.
Amazon darf die vom Verkäufer über die Produkte zur Verfügung gestellten Informationen (“Produktdatenblätter”) auch nach Beendigung des Vertrages nutzen. Dieses Recht besteht, weil der Drittanbieter, während der Vertragslaufzeit, selbst von der Arbeit anderer Drittanbieter profitiert hat, nachdem diese die Website verlassen haben.
Eine Klausel, deren Wortlaut die Möglichkeit einer Auslegung zulässt, nach der der Verkäufer verpflichtet ist, die Preisparität zwischen seinen verschiedenen Vertriebskanälen (z.B. Amazon und einem anderen Marktplatz) aufrechtzuerhalten, ist mehrdeutig. Diese Mehrdeutigkeit führt zu einem erheblichen Ungleichgewicht der Klausel, da Amazon mit den Händlern aufgrund des Verkaufs eigener ähnlichen Produkten in direktem Wettbewerb steht.
Die Haftungsfreistellungen für die Zusatzleistung “Versand durch Amazon” stellen ein erhebliches Ungleichgewicht dar, während die im Hauptvertrag vorgesehenen Haftungsfreistellungen dies nicht tun.
c) Gesamtanalyse des Ungleichgewichts
Das Gericht muss im Rahmen der Überprüfung der Unterwerfung oder der versuchten Unterwerfung eines Handelspartners unter die offensichtlich unausgewogene Klauseln kontrollieren, ob diese Unausgewogenheit nicht von anderen Aspekten ausgeglichen wird. Das Gericht bezieht die verschiedenen unbestreitbaren Vorteile, die Amazon Drittanbietern ermöglicht (Image, Reputation von Amazon, Vertrauen der Verbraucher, Tools die zur das Management erleichtern und Kosten senken….) in seine Abwägung ein. Die verschiedenen Vorteile, die für den Drittanbieter entstehen, gleichen jedoch die Klauseln nicht aus, die ihm Beschränkungen auferlegen, die das Gericht für exzessiv erachtet.
Amazon verstößt damit in sieben Klauseln gegen Artikel L442-6 I 2° des französischen Handelsgesetzbuches und muss diese ändern.
3. Die Strafe
Schließlich ordnete das Gericht an, dass das Unternehmen die als rechtswidrig beurteilten Klauseln innerhalb von 180 Tagen nach Zustellung des Urteils unter Strafe eines Zwangsgeldes von 10.000 € pro Tag der Verspätung ändern muss.
Abschließend ordnete das Gericht an, dass Amazon eine Zivilstrafe in Höhe von 4 Millionen Euro zahlen muss. Die Zivilstrafe, die bei einem Verstoß gegen Artikel L442-6 I 2° des französischen Handelsgesetzbuches verhängt werden kann, ist auf 5 Millionen Euro begrenzt. Um jedoch der von Amazon erklärten Absicht, einige der vom Minister kritisierten Klauseln rasch und deutlich zu ändern, Rechnung zu tragen, entschied das Gericht, die Geldbuße auf 75 % der Obergrenze zu begrenzen.
(Bild: CreditEugene Garcia/Epa-Efe, via Rex, via Shutterstock)