Lasst uns einmal die internationale Logistiksituation der vergangenen 12 Monate betrachten. Was ist passiert? Was sind die Konsequenzen der Entwicklungen für den Onlinehandel? Und vor allem, warum wird die›Ever Given‹-Havarie nun das Fass zum Überlaufen bringen?

Es fing alles mit dem China-Lockdown in 2020 an

Vorausschauende Unternehmer haben eine Verknappung der Ware bereits zum Ende 2019 vorausgesehen. Anfang 2020 war es dann auch für jeden sichtbar. Das Jahr wird schwer. Logistik und Warenverfügbarkeit herzustellen geriert zur größten Herausforderung, wurde bereits von vielen Händlern kolportiert.

»Wir denken, dass wir ab Ostern wieder alles in Griff haben werden. Länger rechnen wir mit keinen Einschränkungen«, so ein Händler aus der Frankfurter Gruppe mit zweistelligem Millionenumsatz.

Es kam anders und es traf ein, was im Laufe des Jahres klarer wurde. Zwar profitiert der Onlinehandel von der pandemischen Situation, aber die Waren werden knapp. Bereits im August klagte ein Händler, der CE-Elektronik handelt: »Wir könnten viel mehr handeln, wenn wir doch bloß Ware hätten. Nicht, dass wir dieses Jahr sogar mit schlechteren Umsätzen als 2019 abschließen«. Und im Weihnachtsgeschäft spitze sich dann die Situation erstmals zu, gleicher Händler klagte: »Gut war das Geschäft nicht. Wir waren mit zu vielen Produkten aus und im CE-Geschäft haben wir eh keine guten Marge.« Das waren die Worte des Unternehmens, welches knapp unter 100 Millionen Euro Umsatz pro Jahr macht.

(Quelle: Statista | Containerumschlag Rotterdam)

Ein rheinländischer Onlinehändler der Kategorie ›Home & Living‹, der im dreistelligen Millionenumfang handelt, berichtete: »Wir haben die Preise einfach verdoppelt. Dadurch haben wir zwar weniger verkauft, aber es hat gereicht, um auf unser Jahresergebnis noch einmal 1,4 Millionen on top draufzupacken.

Was war passiert?

Das Logistikräderwerk war aus dem Tritt geraten. Es dauerte Monate, bis überhaupt wieder Container und Frachtraum halbwegs verfügbar waren. Die Fabriken fingen erst spät nach dem Chinese New Year 2020 an zu fertigen. Zuvor stauten sich aber bereits die Container vor den chinesischen Häfen. Diese mussten entladen werden. Ware zur Neubeladung war aber noch nicht sofort verfügbar und auch die inländischen Transportkapazitäten, also die Lkw, waren ausgeschöpft.

»In den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 erzielte der Hafen von Rotterdam einen Umschlag von 218,9 Millionen Tonnen. Das ist 9,1 % weniger als in der ersten Hälfte des Jahres 2019, der damals ein Rekordumschlag war«, so der Halbjahresbericht des Port of Rotterdam.

Nun gingen die ersten Container auf den Seeweg und schlugen dann auch nahezu gleichzeitig bei den jeweiligen Destinationen auf. Und hier wiederholen sich dann die Ereignisse. Stau im Hafen und bei der Weiterverfrachtung. In einigen US-Häfen lagen Schiffe bis zu 5 Wochen, um gelöscht zu werden. Lkw oder Plätze auf Zügen waren Mangelware.

(Quelle: Port Hamburg )

Diese weltweite Angespanntheit hat sich immer noch nicht aufgelöst. Sie hatte natürlich dramatische Auswirkungen auf die Frachtpreise, die in 2020 teilweise ihr 10-Jahres-Hoch erreichten. Die Containerpreise stiegen bis auf über 7.000 € an, so berichteten Händler.

2020: Frachtraum knapp = Frachtpreise nach oben

Da lohnte es sich, selbst Passagiermaschinen als Frachtmaschinen umzurüsten, um die in Übersee wartenden Waren zu verschicken. Nicht zu vergessen ist ja auch die zusätzliche Verknappung von Frachtraum, weil Passagierflüge weltweit nahezu zum Erliegen gekommen sind. Diese enormen und unerwarteten Einschränkungen führte zu einer Preisexplosion aller Frachtwege, Schiff, Zug und Flugzeug. Ende 2020 war es zeitweise egal, welcher Preis aufgerufen worden ist, es kam drauf an, dass überhaupt Platz gekauft werden konnte.

 

Mit KW-Commerce-Gründer und Geschäftsführer Jens Wasel sprach Wortfilter bereits 2020. »Ich erwarte auch 2021 keine Entspannung der Frachtpreise. Wir müssen alle damit rechnen, dass diese vielleicht sogar noch einmal steigen werden«, so Jens Wasel Ende letzten Jahres.

Michael Meyer von der Fracht Makler Agentur Mega-Log GmbH aus Hamburg beschrieb die Situation bereits im November 2020 sehr ausführlich:

Zunächst mal beobachte ich die Preissteigerungen seit ca. 2002; seitdem ich im China-Geschäft bin.

Seefracht/Container: Immer wieder, ab ca. Ende Oktober, Anfang November sind diese saisonalen Preissprünge zu verzeichnen. Und zwar immer dann, wenn die Nachfragen nach Containerplatz auf den Schiffen massiv zunehmen. Dies ist im Moment die Frage nach Weihnachtsartikel. (CNY spielt jetzt noch keine Rolle.)

Aber wir müssen hier ein bisschen weiterdenken. Natürlich nutzt der Reeder die Situation aus und verknappt das Angebot einhergehend mit der Vielzahl von Nachfragen. Hier ist es wichtig, dass der Kunde erstens den Preis im Blick hat und zweitens die Abfahrtszeit/-frequenz.

Also, der Kunde bekommt einen tollen Preis, weiß aber nicht, dass sein Container evtl. 60 Tage auf der Reise ist. D .h.: Evtl. wird der Container nochmal umgeschlagen (Busan für Container aus Qingdao/Xingang z. B. oder in Singapore für Container aus Shanghai/Ningbo/Yantian etc.). D. h.: Neben dem Preis sollte der Kunde auch die Reisezeit im Blick haben.

Durch meine Praxis kann ich sagen, dass gerne mal Container in Busan/Singapore umgeschlagen werden oder gerollt (auf nächste/übernächste Abfahrten geschoben) werden. Da kommen schnell mal 60 Tage Terminal-to-Terminal zusammen. Da hat der Logistiker – und sei er noch so groß – keine Change, sein Veto einzulegen. Ergebnis: Immer eine direkte Abfahrt anfragen!

Aber ich beobachte seit 2002 auch immer wieder, dass der Preis in relativ kurzer Zeit hochsteigt, aber innerhalb von Tagen wieder auf das normale Maß zurücksinkt. Und zwar dann, wenn die Reeder die (Preis-) Uhr überdreht haben. Eine weitere unübersichtliche Situation ist, dass die Nachfrage nach Containern in Europa steigt, es aber eine leichte Ungleichheit der Containerverteilung gibt. D. h.: Europa hat nicht so viel Exporte wie gewünscht, die Nachfrage nach Importwaren in Europa ist aber sehr hoch. Wenn man so will, die Container liegen alle in Europa ›herum‹ und können nicht ›gedreht‹ werden.

Ein kleiner Ausblick (Kristallkugel) aus meiner Container-Sicht: Die Preise könnten ab KW 50 bzw. ab 14.12. ein wenig zurückgehen. Die Feiertage stehen vor der Tür, die großen Firmen haben Werksferien, die Nachfrage sinkt. Aber nicht vergessen, es gibt auch die ›blank sailings‹, die Reeder nehmen Schiffe aus dem Markt, um die Nachfrage hoch zu halten.

Ab Mitte/Ende Januar wird m. E. wieder die Preisschraube nach oben gedreht. Warum? Am 12.2.2021 ist das chinesische Neujahr. Hier heißt es, ab 11.2 stehen bei fast sämtlichen Produktionsfirmen die Bänder still, und zwar bis mindestens 18.2, eher der 20. Februar. Das ist zwar ein Samstag, aber hier könnte das Wochenende gearbeitet werden. Zu dem Wochenende hält sich die Regierung noch bedeckt und wird -wie immer- kurzfristig gelauncht. Bis alles wieder normal läuft (Mitarbeiter, die nicht zurückgekommen sind, neues Personal angelernt etc.), ist der 24/25.2. Das variiert hier aber nach Produktionsstandorten natürlich.

Seefracht/Stückgut/LCL: Auch ein sehr großer Markt und er ist abhängig von den Einkäufen der Container. D.h.: Hier gibt es zumindest Preissteigerungen (peak seaon surchages = PSS) von 10,00 Euro – 50,00 USD pro cbm im Markt, und zwar seit letzter Woche von allen NVOCC´s (non vessel operating common carrier), also Reeder ohne eigene Schiffe, mindestens bis 15.12 annonciert. Hier ist die Abfahrt nicht so schwierig, ein ›Plätzchen gibt es immer irgendwo‹. Hier habe ich persönlich z. B. für nächste und übernächste Woche bei Abfahrten kein Problem, also aus heutiger Sicht. Ich habe Kunden schon angeraten, auf FCL-Ladung zu verzichten und aus dem vollen/dreiviertel vollen Container eine Stückgutsendung mit Augenmaß zu machen.

Zugfracht/FCL und Stückgut: Hier werden momentan aus meiner Sicht Spitzenpreise von 7000 USD für den 40-Fuß-Container und mehr im Markt von China nach Europa angeboten. Auch hier ist die Nachfrage sehr hoch. Eine weitere Situation ist, dass die chinesische Regierung massiv Chassis (da stehen die Container drauf) beschlagnahmt, um Truppenabzüge/Equipment an der chinesisch-indischen Grenze zu organisieren. Das habe ich aber aus 2. Hand. Bei FCL/LCL kann es außerdem zu Verspätungen auf der Strecke nach DE kommen. Das sind angeblich die Herbststürme im weiten Westen von China und die sogenannten ›Bottlenecks‹ aus Belarus nach Polen. Sowohl in China, als auch in Europa müssen die Waggons auf die 1520-mm-Spurbreite, der ›russischen‹ Spurbreite, umgespurt werden. Sowohl China als auch die meisten europäischen Länder haben ja 1345-mm-Spurbreite. Noch zu bauende oder gar fehlende Infrastruktur tun ihr übriges.

Übrigens, die Transitzeiten von Terminal-to-Terminal von 18-20 Tagen können in den seltensten Fällen gehalten werden.

Luftracht: Hier gebe ich keine Tendenz ab. Ich weiß noch, dass der Luftfrachtpreis sehr volatil ist und sich beinahe täglich ändert und meistens eine Gültigkeit zum Ende der Woche hat. Aber ob man dann Platz auf dem gebuchten Flugzeug bekommt, ist manchmal fraglich. Wartezeiten des finalen Abflugs zwischen 5-7 Tagen sind möglich.

Herzlichen Dank an Michael Meyer für die sehr ausführliche Beschreibung der Situation. Die Stellungnahme wurde Ende November 2020 abgegeben.

Die Ever Given bringt nun das Fass zum überlaufen

Und genau in diesem Kontext, also der noch nicht entspannten Situation, ist nun die Havarie der Ever Given zu sehen. Um die 400 Schiffe waren gut 14 Tage blockiert und stauten sich. Zwar ist zunächst nicht der Welthandel betroffen, sondern ›nur‹ die europäische Warenzufuhr. Aber das reicht bereits. Was passiert aktuell? Nachdem sich die Schiffe nun im Kanal gestaut hatten, liefern sie sich jetzt ein Wettrennen. Wer ist zuerst im Hafen, wer bekommt zuerst Platz und wer wird zuerst gelöscht?

(Quelle: Traffic April 2021 vesselfinder.com)

Aus Händlerperspektive bedeutet die Situation nicht nur eine weitere Verzögerung, sondern auch eine deutliche, zusätzliche und überraschende Erhöhung der Kosten. Denn auch der nachgelagerte Frachtraum wird knapp. Nachdem die Container gelöscht worden sind, müssen sie ja noch zu euch. Via Lkw oder mit einem Zug. Aktuell ist aber auch dieser Frachtraum nur eingeschränkt verfügbar. Teilweise treten Wartezeiten von bis zu 10 Tagen auf. Und diese produzieren nicht unerhebliche Lagerkosten. 50 Euro pro Tag und Container sind keine Seltenheit.

Das Sommergeschäft ist gelaufen?

Es wird zu erwarten sein, dass die Preise steigen [müssen], jedenfalls dann, wenn ihr nicht ›out of stock‹ laufen wollt. Was aber für viele Händler schlimm sein dürfte, ist, dass das Lager leerläuft. Aber auch, dass jetzt Sommerware im Anmarsch ist. Damit besteht das Risiko, dass ihr diese Saison verpasst.

Das könnte tatsächlich eintreten, denn nicht jeder von euch war in der Lage, sich auf die anhaltend angespannte Situation einzustellen. Zu wenig Cash, zu kurzfristig geplant, zu kleine Bestellmengen und dann damit verbundene längere Lieferzeiten können die Ursachen sein.

Und das Learning?

Ein Plan B sollte jeder von euch in der Schublade haben. Im vergangenen Jahr sagte ein großer Berliner Händler auf Wortfilter: »Es ist nicht einfach, neue Lieferanten aufzutun. Alleine der Lieferantenauswahlprozess dauert meistens Monate. Wir hoffen, dass unser Lager in China ausreichen wird.«

(Traffic Oktober 2020)

Das ist kein Plan B und es ist gefährlich. Ab einer gewissen Größe lassen sich eben nicht einfach Prozesse runterfahren und damit Kosten einsparen. Der Abriss der Lieferkette kann euch ›in Teufels Küche‹ bringen. Eine Lösung kann sein, dass ihr immer einen weiteren europäischen Lieferanten in petto habt. Diesen bedient ihr zwar mit geringeren Aufträgen, habt aber Zugriff auf seine Ressourcen. Eine weitere Strategie kann ein angepasstes Produkt-Portfolio sein, das euch hilft, Mangelfolgen auszugleichen.

(Traffic April 2021)

Am Ende des Tages solltet ihr alle – für euch aktuell und die Zukunft – einen ordentlichen Plan B in der Schublade haben. Dieser wird individuell sein. Ein Patentrezept gibt es nicht.

Und die Politik?

Da gab es sehr spannende Anregungen aus dem Verbandsumfeld zu hören. Der Präsident eines großen Onlinehandelsverband regte an, dass sich die EU um Produktionsstandorte in Nordafrika kümmern solle. Hier wären die ›Plätze‹ noch nicht durch die übermächtige chinesische Omnipräsenz wie in Mittel- und Südafrika besetzt. Mit Investitions- und Aufbauhilfen seien so Alternativen zu Produktionsflächen in Asien zu schaffen.

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Dem ist allerdings zu erwidern, dass China mit einem gewissen Pragmatismus Herausforderungen löst. Solche Werkzeuge stehen der Europäischen Union [zum Glück] nicht in diesem Maße zur Verfügung.

Das Fass und der Tropfen

Welche Auswirkungen der Zwischenfall im Suezkanal tatsächlich haben wird, zeigt sich in den kommenden Wochen und Monaten. Wir werden alle Händlerstimmen lesen können. Ob das Desaster so stark sein wird, dass wir es zum Beispiel in den Verbraucherpreis-Indizes erkennen, wissen wir noch nicht. Bisweilen haben sich die pandemischen Einflüsse in Grenzen gehalten und unsere Wirtschaft hat sich sehr resilient gezeigt.